Handlungsorte: Traue ich mich noch heim?

Weltenbau-Serie, Teil 1: Reale vs fiktive Orte.

Orte sind eine meiner Hauptinspirationsquellen beim Schreiben. Deswegen lasse ich Geschichten so gern dort spielen, wo ich selbst längere Zeit gewohnt oder wenigstens öfter Urlaub gemacht habe: No Pflocks Inspiration kam ganz konkret von der Idee, in meine friedliche kleine Unistadt ein paar blutrünstige Vampire zu werfen, und natürlich von dem Aufkleber am Abflussrohr (einen Besuch am Tatort findet ihr hier). Es macht mir unheimlich Spaß, kleine Details einzubauen, ein Augenzwinkern für alle Eingeweihten. Deshalb war die Lesung vor rund 40 Studierenden in Eichstätt ja auch eine der besten: Weil das Publikum die Anspielungen verstanden hat und voll mitgegangen ist. Während des Schreibens schickte ich meinen Eichstätt-Korrespondenten Daniel immer wieder mit Spezialaufträgen los wie: Wie genau sieht nochmal die Hintertür des Doms aus? Wo finde ich noch eine öffentliche Telefonzelle in Uninähe? Wie weit ist der Alter in der Schutzengelkirche von der Rückwand entfernt? Dann jedoch kommt schon die künstlerische Freiheit ins Spiel und ich dichte der Kirche einen unterirdischen Geheimgang zum benachbarten Priesterseminar an. Oder erkläre ein harmlos aussehendes Bürogebäude in Garching zur Zentrale des Vampirältestenrats. Oder verpasse der Blue Spar Bar auf dem Hotel Bayerischer Hof in München statt ihres eleganzen Glasgeländers eine Steinbalustrade, nur damit Ravic besser drauf sitzen kann. Das ist auch schon Weltenbau.

Kleiner Besuch meiner Gnackzuuzler am Ort des großen Finales

Für meinen Nordsee-Krimi setzte ich extra eine Recherchereise im Februar an, der Jahreszeit, in der sich selten Touristen an die Nordsee verirren, in der es aber die meisten Sturmfluten gibt (und erlebte den dicksten Schnee des Winters 2018, wie ihr hier sehen könnt). Selbst die Rezensionen, die sich an verschiedenen Aspekten gestört haben wie fehlender Spannung, zu viel Pferdeflausch oder einer „nervigen“ Protagonistin, loben einhellig die Stimmung und dass es mir gelingt, das Meer vor dem inneren Auge erstehen zu lassen. Das funktioniert am besten, wenn man selbst mit dem Fahrrad über den Deich gefahren ist und sich die Finger fast abgefroren hat. Der Bauwagen im Hauke-Haien-Koog ist allerdings kein Kiffer-Treff der Dorfjugend, soweit ich das beurteilen kann – ich habe ihm für meine Geschichte etwas mehr Graffiti angedichtet. In Wirklichkeit kann man ziemlich gut durch die Fenster hineinsehen und er ist langweilig leer.

Dass Rost und Schafscheiße seine größten Feinde seien, ist übrigens tatsächlich O-Ton des Fahrradverleihers.

Elektronische Helferlein

Google Maps und Streetview sind zwar nützliche Werkzeuge, um sich manche Entfernungen auszurechnen oder das Gedächtnis aufzufrischen, ebenso zur Planung. Aber es ersetzt nicht das Gefühl, durch die Straße gegangen, einen Ort gerochen zu haben, zu merken, wo die Wetterecke ist und wo immer die Hunde illegal hinkacken. Ganz davon abgesehen, dass die App gerade Fußwege oft nicht kennt und manchmal schlicht falsch liegt. Das habe ich gemerkt, als ich in Grimma mal in der Kaffeerösterei einkaufen wollte, und auch, als ich für meinen Cosy Crime in Dillenburg den Standort der Zeitungsredaktion suchte. Irgendwie passten Bilder und Markierung nicht zusammen und schließlich kam ich drauf, dass die Redaktion im Haus genau neben dem saß, das in Maps als Adresse eingezeichnet war. Der erste Handlungsort, an dem ich noch nie gewesen bin, werde ich erstmals in meinem modernen Märchen haben, das planmäßig 2024 im Ashera-Verlag erscheinen soll: Florida. Das macht mich schon ein bisschen nervös, aber ich erwarte nicht, dass das Buch je ins Englische übersetzt wird und Einheimische anpissen kann. Die USA halten oft genug her für irgendwelche Stories, die sind Kummer gewöhnt – und wir werden auch nur wenig Zeit auf der Erde verbringen, wie wir sie kennen, so viel sei versprochen.

Wolfssichere Umzäunung bei Rheinsberg

Wo liegt eigentlich Großhain?

Jetzt kommen wir zu einem spezielleren Fall: Menschenwolf. In der ersten Fassung hatte mein Herzensprojekt noch gar keine Ortsnamen, ich wollte es so allgemein wie möglich halten. Aber ab der zweiten änderte sich das. Die entstand nicht umsonst mitten im Journalistik-Studium. Und da siedelte ich Teile bereits in Sachsen an, ohne je dort gewesen zu sein, schlicht, weil das der Ort war, an den die Wölfe gerade zurückzukehren begannen. Und als ich dann in den Osten zog, wurden die Schauplätze immer konkreter: Tempelhof und Wedding sind natürlich bekannt, ebenso die „Waldstadt“ Eberswalde (mit einem tollen Forstbotanischen Garten und dem abgewracktesten, versifftesten Studentenwohnheim, in dem ich je das Missvergnügen hatte, zu wohnen, zum Glück nur drei Monate und nur unter der Woche) und die Kyritz-Ruppiner Heide, in deren Nähe sich das Bombodrom von Wittstock befindet. Alle paar Jahre ist diese unfreiwillige Steppe einen Medienbeitrag wert, betreten werden darf sie immer noch nicht wegen Explosionsgefahr – und die Tiere sind dankbar dafür.

Aber wie sieht es mit Großhain in der Lausitz aus, wo Nick Isa als „Problemwolf“ einfängt, mit dem Wiesburger Tierpark, Linnerow und Nersberg in Brandenburg und Heftlitz, wo das Wolfsbüro sitzt? Die hab ich mir alle ausgedacht, aber so, dass sie nach Ortsnamen klingen, die tatsächlich in den jeweiligen Regionen existieren könnten. Gerade das „-ow“ begegnet einem ständig, wenn man über die Dörfer fährt. Dann habe ich mir überlegt, wie die Straße aussieht und das Haus, in dem Isas Eltern wohnen, und zu welchem Polizeibezirk es gehört. Warum habe ich das bei Menschenwolf getan, aber nicht bei No Pflock? Zum einen spielen die Orte eine untergeordnetere Rolle, sind Kulisse für das zwischenmenschliche Drama, das dort abläuft (anders als in Sturmflutnacht oder No Pflock, wo sie fast eigene Charaktere sind). Zum anderen glaubt niemand wirklich, dass in Garching Vampire wohnen. Aber Menschenwolf ist, abgesehen von der Tatsache, dass sich eine Frau in einen Wolf verwandelt, ein sehr realistisches Buch. Ich wollte nicht, dass Leute anfangen, zu spekulieren, ob ich eine bestimmte Person im Sinn habe, wenn ich einen Fall von Kindsmissbrauch ins Spiel bringe. Auch wenn solche Verbrechen leider überall vorkommen können, möchte ich nicht unabsichtlich und unnötig dem Ruf eines Ortes schaden.

Damit ich mich noch nach Hause trauen kann

Einen ähnlichen Trick ziehe ich jetzt in meinem Cosy Crime ab. Diesmal nicht aus solch ernsten Gründen, sondern weil ich auf meinen Erfahrungsschatz aus der Arbeit im Lokaljournalismus zurückgreife. Den ich in ganz Deutschland gesammelt habe, wohngemerkt. Ja, der Krimi spielt grob in meiner alten Heimat, aber ich habe das fiktive Helmersdorf absichtlich an der Dill und nicht an der Lahn angesiedelt, damit auch hier nicht die Raterei losgeht, wer für welche Figur Vorbild gewesen sein mag. Es gibt Inspirationen, aber nur für die grundsätzliche Situation (ein alter Lokalreporter, der immer der erste am Büffett ist, ein Hotelbesitzer, der absichtlich ein denkmalgeschütztes Haus verfallen lässt, weil er es nicht abreißen darf – letzteres ist mir in Bayern begegnet), der Charakter ist dann eine pure Eigenkreation. Ich hebe Menschen nie eins zu eins in eine Geschichte, selbst wenn ich z.B. ihre Handlung verwende (in „Neun Leben, achtzehn Krallen“ zum Beispiel Mrris Entführung auf einen Bauernhof).

Deshalb war es mir so wichtig, dass meine Schwester meinen Katzenroman testliest und mir sagt, ob sich unsere Nachbarn fälschlicherweise wiedererkennen könnten. Denn der spielt tatsächlich in meinem Heimatdorf Villmar, auch wenn es niemandem auffällt, weil Mrri diesen Namen nicht kennt und es dort keinen Aikenweg gibt (der Name ist eine Anspielung an mein liebstes Katzenbuch). Ich habe die Optik von zwei verschienen Straßen unseres Wohngebiets zusammengeworfen. Sogar eine (schreckliche) Zeichnung angefertigt, damit ich mir merke, in welchem Verhältnis die Grundstücke zueinander liegen. Selbst wenn ich mal High Fantasy schreibe, versichere ich euch: Ihr werdet von eigenhändig angefertigten Karten verschont bleiben!

Panoramablick über die Maisfelder auf das Wohngebiet. Der Bauernhof, den Mrri unfreiwillig kennenlernt, liegt hier im Rücken

In der nächsten Folge: Namensgebung

1 Kommentar zu „Handlungsorte: Traue ich mich noch heim?“

  1. Liebe Andrea.
    Jetzt muss ich doch mal meinen Expertensenf zur wölfischen Bildunterschrift dazu geben:
    Es gibt KEINE wolfssicheren Zäune, sondern nur wolfsabweisende. Die tun’s aber auch. 😉
    Liebe Grüße
    Elli

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