Wie kann sich die Welt jetzt weiterdrehen? – Gedanken nach dem Tod meines Vaters

TW Tod, Verlust, Trauer

Wer mir auf Social Media folgt, hat es schon gehört: Am 5. August ist mein Vater völlig überraschend gestorben. Mein Freund und ich waren im Urlaub im Moseltal, wären zwei Tage später planmäßig bei meinen Eltern vorbeigefahren, hatten schon beim Winzer vor Ort guten Wein gekauft, zwei völlig verschiedene Sorten, weil die beiden einen so unterschiedlichen Geschmack haben. Deshalb waren wir näher dran als sonst und konnten schnell da sein, als meine Mutter anrief. Er lag im Bett und atmete einfach nicht mehr. Wiederbelebung war erfolglos gewesen.

Moselschleife, vom Prinzenturm aus gesehen

Am Vorabend hatte ich mich noch etwas gewundert, dass Papa nichts zu meinem Moselschleifenbild schrieb, das ich in die Familien-Signal-Gruppe gestellt hatte. Etwas schlapp hat er sich gefühlt, sagt Mama. Unser Mittagessen vom heißen Stein in Pünderich und das Regen-Wanderbild meiner Schwester aus den Alpen hatte er noch mit „Beides sieht nach Anstrengung aus 🙂 “ kommentiert. Unsere letzten Worte, sozusagen.

Über zwei Wochen ist das jetzt her und ich frag mich, wo die Zeit hin ist. Es ist so viel passiert, gab so viel zu organisieren und zu bedenken (auch wenn Papa als vorausschauender Mensch schon so ziemlich alles für den Fall eines Falles vorbereitet hatte), Beileidsbekundungen entgegenzunehmen und manchmal auch von meiner Mama fernzuhalten, wenn es zu viel wurde. Und gleichzeitig stand die Welt still, ist alles ein einziger großer Blob aus Schmerz. Ich habe nie gewusst, dass Trauer ganz konkret körperlich schmerzen kann, meine Brust und Herz zusammendrückt, meinen Rücken krümmt. Geweint habe ich meistens nachts oder wenn ich mit Gerd alleine war. Saß im Bett, beobachtete den schlafenden Mann an meiner Seite und dachte nur: Du wirst auch eines Tages nicht mehr da sein.

Alle sagen, wie unwirklich es ist, dass sie es nicht glauben können, dass sie erwarten, Papa käme jeden Moment zur Tür rein. Ich nicht. Sobald ich ihn dort liegen sah, war alles schrecklich real. Ich frage auch nicht nach dem Warum, wie der Pfarrer meinte. Hadere nicht. Solche furchtbaren Dinge passieren und es tut einfach nur weh. Vor allem, wenn alle anderen noch in der Verleugnungsphase sind.

Die Beerdigung war am Dienstag, und sie war, in Ermangelung eines besseren Wortes, wirklich schön. Die Trauerkarten und Briefe stapeln sich, es ist wundervoll, sich bewusst zu machen, wie viele Menschen mein Vater mit seinem Tun erreicht und berührt hat. Es ist seltsam tröstlich, wenn jede*r einzelne Trauerredner*in unter den Bäumen des Ennericher Waldfriedhofs mit den Tränen kämpft. Für den Mann, der engagiert war als Lehrer, in der Flüchtlingshilfe, bei der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, Heimatgeschichte, als Lokaljournalist, im Tennisverein, im Umweltschutz, in der SPD und was weiß ich noch alles.

Unser letztes gemeinsames Selfie vom Juni

Ich kann immer noch nicht ausdrücken, was genau Papa für mich bedeutet hat, journalistische Ausbildung, Autorin, Lektorin hin oder her (was alles Teil des Pfades ist, auf den er mich setzte, irgendwie). Es ist unendlich komplex, vor allem, weil wir uns so ähnlich waren und er sich manchmal zu sehr kümmern wollte. Gerade erst habe ich zum 25. Jubiläum unserer Kanada-Reise einen kleinen Reisebericht geschrieben, unter dem er kommentierte: „Ich war mächtig stolz auf dich (und bin es gerade wieder).“ Ich hab lächelnd die Augen verdreht. Jetzt weine ich jedes Mal, wenn ich das lese.

Ich bin sehr froh, dass wir unseren großen Streit von vor sechs Jahren mittlerweile ausgeräumt hatten. Dass ich im Juni nach elf Monaten pandemiebedingter Abwesenheit bei meinen Eltern zu Besuch war und Papa und ich im Weilburger Tiergarten war. Nicht so spektakulär wie unsere gemeinsame Wolfbeobachtungstour 2006, aber halt unser Ding. Ich liebe das Foto, das danach beim Mittagessen im Tommy’s entstanden ist. Da ist nichts offen, nichts wirklich ungesagt, positiv wie negativ. Papa hat nach dem plötzlichen Tod von Udo Jürgens gemeint, dass man sich sowas für sich selbst eigentlich nur wünschen kann. Nur für das Umfeld ist es scheiße.

Alles andere war nach der Nachricht bedeutungslos, nur meine Familie wichtig. Keine Politik, kein Autorinnenleben, keine Arbeit, keine Steuer oder Terminpläne. Meine großartigen Kolleginnen schickten mir ein Trostpaket und boten an, meine Kundschaft zu betreuen. Was nicht nötig war, weil die ihrerseits unendliches Verständnis zeigt, dass ich die Deadlines breche. Ebenso meine Agentin. Eigentlich hatte ich gerade wieder in meinen Cosy Crime reingefunden, aber ich weiß nicht, wie ich jetzt über einen 77 Jahre alten Lokaljournalisten in meiner hessischen Heimat schreiben soll. Stattdessen habe ich, wie immer in schrecklichen Zeiten, mir wieder meine Vampire vorgeholt. Den Horror, den ich unter Kontrolle habe (so einigermaßen, wenn die Charaktere nicht unvorhergesehene Dinge tun). Gestern habe ich mich gefreut, in Weilburg einen neu eröffneten Sushiladen zu finden, und mir mein Soulfood reingestopft. Ich habe sogar wieder angefangen, Beiträge auf Insta zu kommentieren. Aber ich kann mich auf nichts lange konzentrieren (habe sogar den Fehler in der Traueranzeige meines Vaters übersehen, der zum Glück der Zeitung auffiel), verliere schnell das Interesse oder halte plötzlich inne und denke mir: Wie kannst du weitermachen, als wäre nichts passiert? Langsam lässt die große exestenzielle Panik nach, die ich in den vergangenen beiden Wochen ständig im Hinterkopf hatte, und weicht einer großen Müdigkeit.

Morgen fahre ich zurück nach Grimma, am Montag versuche ich, zu arbeiten. Ich weiß nicht, was noch alles in mir passieren wird, wie ich mich je wieder richtig auf was freuen soll. Aber es wird kommen. Denn auch wenn es Papa manchmal schwerfiel, loszulassen, hat er mich grundsätzlich darauf vorbereitet, meinen Weg zu gehen. Ich brauche ihn nicht. Ich hätte einfach nur gerne noch mehr Zeit mit ihm gehabt.

1 Kommentar zu „Wie kann sich die Welt jetzt weiterdrehen? – Gedanken nach dem Tod meines Vaters“

  1. Wir haben ja letzte Woche schon gesprochen, liebe Andrea. Was für ein schönes Bild von euch beiden. Ich erinnere mich auch noch gerne an unsere gemeinsame Wolfsreise nach Yellowstone und wie stolz dein Papa auf dich als frisch gebackene Journalistin war.
    Nimm dir Zeit zu trauern und lass dich von niemandem drängen.
    Dicke Umarmung von deiner
    Elli

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