Ich mag die Bahn. Wirklich! Auf weite Strecken finde ich sie die angenehmste Art zu reisen. Lange Autofahrten sind stressig und gleichzeitig langweilig, weil man am Lenkrad nichts machen darf (oder sollte). Anhalter können eine schöne Abwechslung sein. Aber in der Bahn kann man lesen, am Laptop arbeiten, dösen… Und zwischendurch rumlaufen oder am Bahnsteig frische Luft schnappen, was im Flieger nicht funktioniert. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mit Hinfahrt zum Flughafen, Ein- und Auschecken auch viel Zeit verliere, widerstrebt es meinem ökologischen Bewusstsein, innerhalb Deutschlands zu fliegen.
Also die Bahn. Es gibt viele Witze über sie und viele davon sind leider auch noch wahr. Was hab ich nicht schon alles mit der Bahn erlebt! Der Zugbegleiter mit Radiomoderator-Qualitäten, der alle Passagiere dazu brachte, sich wie Helden zu fühlen, als unser ICE Zuggäste aus einem liegengebliebenen Zug auf freier Strecke über Alubrücken evakuierte. Über die Verspätung und das Gedränge in den Abteilen ärgerte sich dann keiner mehr.
Oder der Besoffene, der einen Nothammer von der Wand riss, wahrscheinlich, um dem den Kopf einzuschlagen, den er für den Dieb seines falsch abgestellten Koffers hielt. Ich folgte ihm unauffällig und alarmierte die Zugbegleiterin, die dem Typen auf freundliche, aber bestimmte Art die Waffe wieder abnahm, bevor sie ihn im nächsten Bahnhof der Polizei übergab.
Lustig sind auch die Kommentare der Zugführer im Regionalverkehr, die über Lautsprecher mit typischer Berliner Schnauze zum Freimachen der Türen auffordern: „Sach tschüss, Mutti!“
Dass die Reisezentren nicht immer ganz logisch aufgebaut sind, dachte ich mir in München. Ein Mann erklärte einem Herrn mit Migrationshintergrund im tiefsten Bayerisch, dass er erst eine Nummer ziehen müsse. Ich schaute auf das verständnislose Gesicht des Angesprochenen und hatte großes Mitleid, bis er in nicht weniger breitem Dialekt antwortete: „Jo, wennst gnau hi gokst…“
Und gestern kam dann der Streik. Von neun Uhr am Vorabend bis sechs Uhr früh ließen die Zugführer alles stehen – und natürlich hieß das nicht, dass die Pendler ab sechs zur Arbeit kommen würden. Ich hatte mir für den Tag eine Fahrt zu meinen Eltern nach Hessen vorgenommen und dokumentierte meine Erlebnisse für Freunde auf Facebook:
6.18 Uhr: Selbsttest am Morgen nach dem Bahnstreik, 1: Ich hoffe, dass sich jetzt irgendwo der Zug in Bewegung gesetzt hat, der mich vor 10 Minuten nach Berlin hätte bringen sollen.
6.48 Uhr: Selbsttest 2: Die elektrische Anzeige kündigt weiterhin an, dass der Zug um 5:08 Uhr ausfällt. Der Typ am Servicetelefon sagt, der nächste, mit dem wir in Schwedt rechnen können, fährt erst um 8:08. Ich erzähle das mal am Bahnsteig rum. Lustig, dass da so viele rumstehen, aber keiner kommt auf die Idee, mal die überall ausgehängte Nummer anzurufen. Mal sehen, ob es im Oder-Center guten Tee gibt.
7.38 Uhr: Selbsttest 3: Kein Tee so früh am Morgen. Ich nehme den Bus nach Angermünde, wo die Chance auf ein Weiterkommen größer ist. Leider gilt mein Bahnticket nicht. 3,50 Euro ist es mir aber wert, nicht noch länger zu warten.
8.45 Uhr: Selbsttest 4: In Angermünde ward auch noch kein Zug gesehen, aber hier gibt’s einen Laden, der seit 5 auf hat. Nur wer hat die öffentlichen Toiletten abgeschafft?
9.23 Uhr: Selbsttest 5: Sitze endlich in der Bahn. Die Schaffnerin erinnert mich daran, das Fahrgastrechteformular auszufüllen. Zeit dafür werde ich in Berlin wohl haben. Einen Anschluss nach Frankfurt kann sie mir nämlich nicht nennen.
10.23 Uhr: Selbsttest 6: Die meisten Leute am Berliner Hbf sind recht gelassen. Sie waren offenbar auf Verspätung eingestellt. Keine 5 Minuten und ich hatte meinen Antrag auf Fahrtkostenrückerstattung. Der nächste ICE in Richtung Frankfurt soll angeblich pünktlich sein. Ich trau dem Frieden aber noch nicht ganz. 🙂
10.40 Uhr: Selbsttest 7: Tatsache: Pünktliche Abfahrt, freie Wahl zwischen zahlreichen leeren Plätzen. Wie viele Menschen haben heute lieber das Auto genommen? Wenn mir nicht noch was Spaßiges begegnet, beende ich hier mein Protokoll. Einen schönen Tag!
„Du bist nicht von dieser Welt“, kommentierte einer den letzten Beitrag – und tatsächlich muss ich den einzigen Zug erwischt haben, der unbehelligt von Umleitungen, Wartezeiten, spontaner Umorganisation etc. quer durch Deutschland durch das ganze Chaos geschlüpft ist. Ja, ich denke, das größte Problem ist bei der Bahn die mangelnde Kommunikation. Warum kann die elektronische Anzeige nicht auch die anderen ausfallenden Züge bekannt geben?
Und das ist nicht nur im Krisenfall so: Warum wird im Berliner Ostbahnhof über Lautsprecher die Einfahrt und das Einsteigen („Achtung an den Türen!“) eines Zuges auf dem geplanten Gleis kommentiert, während der am Ausweich-Gleis erst eine Viertelstunde später kommt – und die Mitarbeiter am Infoschalter mir das schon eine halbe Stunde früher persönlich sagen konnten? Warum werden Gäste aus den USA im Weihnachtschaos völlig allein gelassen und nicht mal mehr der Versuch einer englischen Durchsage gemacht, als ein Zug einfach früher endet und alle mit der S-Bahn Richtung Hauptbahnhof weiter fahren sollen? Monty aus Las Vegas, trotz Daunenjacke und Mütze zitternd im eisigen deutschen Winter, war sehr dankbar für meine spontane Übersetzung.
Aber trotzdem werde ich auch weiterhin die Bahn nehmen. Bei der jährlichen Preiserhöhung schlucken. Mich ärgern, wenn der der letzte Zug zwischen Berlin und Schwedt gestrichen wird, der es mir noch erlaubte, abends in der Hauptstadt mal ins Kino zu gehen. Aber es bleibt immer der Trost: In anderen Ländern ist Bahnfahren noch ein viel größeres Abenteuer.