Mit einem Mal ist alles wieder da: Das Gefühl, auf einem Berggipfel zu stehen neben einem vom Blitz geborstenen Baum, nach einem harten Aufstieg den Ausblick genießen über die Wälder und Seen von British Columbia. 14 Jahre war ich alt bei meiner ersten großen Reise in die kanadische Wildnis. Danach verging jahrelang kein Tag, an dem ich nicht daran gedacht hätte: das Schwarz des Bärenfells, das Blau der Gletscher, das Weiß der Wasserfall-Gischt, das tausendfache Grün der Bäume, Gräser und Kräuter. Mit den Jahren ist die Erinnerung etwas verblasst, überdeckt von vielen neuen Eindrücken aus anderen Ländern. Aber jetzt ist alles wieder da. Denn Chris hat auf meine Mail geantwortet.
Bis ich jüngst auf die Idee kam, Freund Google zu fragen, wusste ich nicht mal ihren Nachnamen. Chris ist eine Biologin, die unsere Reisegruppe an einem namenlosen See getroffen hat. Nach einer Wasserflugzeug- und Kanutour erreichten wir das zweistöckige Holzhaus, das sich Chris selbst gebaut hatte. Inklusive Keller, der ihr einmal das Leben rettete, als eine Bande junger Grizzlys auf die Idee kam, ihre Hütte zu stürmen. Seit 1987 erforschte sie in der Wildnis Flora und Fauna, zeichnete wundervolle Bilder unter anderem vom Nationalvogel Loon, fotografierte, hielt Vorträge – und führte Reisegruppen auf selbst angelegten Wanderwegen durch die vielfältige Landschaft. Immer dabei waren ihre beiden Hunde, die in einer Art Fahrrad-Satteltaschen ihr Gepäck trugen. Mehrere Tagesmärsche vom nächsten Dorf entfernt, im Winter über Monate komplett eingeschneit, Holzofen, Waschbottich, als einzigen Luxus ein solarbetriebener Computer.
Ein hartes und einsames Leben, sicher – aber ich war einfach nur zutiefst beeindruckt von dieser mutigen Frau. „Ich zieh zu Chris in die Wildnis!“ war über Jahre ein geflügeltes Wort zwischen meinem Vater und mir, wenn uns alles auf die Nerven ging. Trotzdem hat es 18 Jahre gedauert, bis ich die Möglichkeiten des www genutzt habe, um nach ihr zu suchen. Und siehe da, nicht nur ist ein Buch über ihre Abenteuer sogar ins Deutsche übersetzt worden (wenn auch nicht das beste aus der Reihe, wer also sein Englisch üben will, sollte direkt in Kanada bestellen), sie hat auch eine Homepage mit Blog. Und obwohl Chris gerade mitten in einem Umzug von der mir bekannten Hütte in ein etwas altersgerechteres Wildniscamp steckt, hat sie mir per Satellitenverbindung noch am gleichen Tag auf meine Email geantwortet. Und von Wölfen erzählt, die den ganzen Winter rund um ihr Heim heulten.
Das Fernweg schlägt zu! Immerhin habe ich an Chris‘ See nachts den Loon singen gehört. Das bedeutet einer Touristen-Legende nach, dass man wieder genau an diesen Ort zurückkehren wird…
P.S. Ja, es gibt auch einen deutschen Namen für den Vogel: Seetaucher. Aber ich habe ihn als Loon kennengelernt. Außerdem finde ich es eine liebeswerte Selbstironie, dass die Kanadier ihre Dollarmünze „loony“ („Verrückter“) nennen, weil er darauf abgebildet ist .