Heute haben syrische Flüchtlinge in ganz Deutschland Rosen verteilt, als Dankeschön, dass sie bei uns eine sichere Zuflucht finden konnten. Ich bin mit einer Gruppe durch das Schwedter Oder-Center gelaufen. Nadra hatte mich dazu eingeladen – und mir die erste Rose überreicht. Ich habe sie und ihre Schwester am Donnerstag zufällig auf der Straße getroffen, zusammen mit Wenke Paul, die in der Flüchtlingsunterkunft Deutsch unterrichtet. Um den beiden allerdings dabei zu helfen, den notwendigen Anmeldekram auf dem Amt zu erledigen, konnte sie nicht gut genug Englisch. Also sprang ich spontan als Übersetzerin ein. Nadra spricht ausgezeichnet Englisch, sie hat vor dem Krieg in Aleppo Informatik studiert. Auf der Flucht lernte sie innerhalb von drei Monaten Türkisch, deshalb bin ich mir sicher, dass sie auch das Deutsche bald meistern wird, mit der richtigen Anleitung. Sie möchte gern ihr Studium beenden.
Dieser Nachmittag hat mir gezeigt, dass leider momentan viele Zuständige offensichtlich ziemlich überfordert sind: Das Bundesamt in Eisenhüttenstadt hat Nadras Unterlagen nach Prenzlau geschickt statt nach Schwedt, die Organisatoren im Flüchtlingsheim schickten sie zum Rathaus I, dabei sitzt die Ausländer- und Meldebehörde in Rathaus 2, Übersetzer gab es auch keine. Wettgemacht wird das durch nette Beamte, die sich nicht als strenge Paragraphenreiter aufführen. Denn obendrein hat das Bundesamt vergessen, Nadras vorläufige Erlaubnis, sich in Deutschland aufzuhalten, bis über ihren Asylantrag entschieden ist, zu verlängern. Als ich ihr das übersetze, bricht sie fast in Tränen aus: „Heißt das, ich bin jetzt eine Illegale?“ Nein, beruhigt sie die Schwedter Beamtin, sie kümmert sich um alles.
Dass in Ostdeutschland gerade die älteren Menschen nicht besonders gut Englisch können, macht die Kommunikation nicht leicht. Aber den Mittelfinger, den ihr ein paar junge Männer aus dem Auto heraus gezeigt haben, hat Nadra sehr gut verstanden. Nicht immer fühlt sie sich sicher auf der Straße, gibt sie zu. Aber im Oder-Center hat sie heute ein paar schöne Begegnungen. Tatsächlich lehnt mal der ein oder andere die Rose mit einem bösen Blick ab, aber vielleicht denkt er auch nur, die Gruppe will was verkaufen. Andere reagieren begeistert, fragen nach, sagen „Herzlich willkommen“, machen Fotos. Irgendwann muss sich Nadra die Tränen der Rührung aus den Augen wischen.
Seit einer guten Woche sind wohnen die Schwestern in der zur Unterkunft umgebauten ehemaligen Ehm-Welk-Schule. Dass kurz vor ihrem Einzug ein paar Nazi-Arschlöcher eine Kundgebung vor dem Gebäude gemacht haben, erzähle ich ihr lieber nicht. Die hatten auch nicht wirklich viel Publikum – aber eben leider auch nicht viel Gegenwehr. Kaum ist der Organisator des Bündnisses gegen Fremdenfeindlichkeit in Schwedt in Urlaub, kriegt keiner so richtig einen Protest organisiert. Mit zwei Handvoll Leuten hab ich also im Nieselregen gestanden und den Idioten Bier vorgetrunken – sie hatten nämlich bei ihrem Facebook-Aufruf extra ermahnen müssen, dass Alkohol nicht erwünscht sei auf der Kundgebung. Die kennen wohl ihre Pappenheimer.
Heute also lieber Rosen, Lächeln und Dankeschön. Und weil das Wetter so toll ist, machen wir zu dritt noch einen Ausflug ans Bollwerk. denn die richtig schönen Ecken von Schwedt haben Nadra und ihre Schwester noch gar nicht gesehen. Am glitzernden Wasser müssen sie gleich an ihre Heimat denken, die Gebirge, das Mittelmeer. Doch die Landschaft ist durch den Krieg genauso zerstört wie die historische Zitadelle von Aleppo. ISIS und der syrische Islam haben nichts miteinander zu tun, versichert sie mir. Auch wenn sie ein Kopftuch trägt, kennt sie ihre Heimat als offenes Land, in dem sie wie viele Frauen ihr Studium begann, wo viele verschiedene Religionen zusammenleben. Dann kamen die Fundamentalisten und behaupteten auf einmal, sie seien keine echten Muslime. Verrückte und Verbrecher sind das, sagt Nadra. Doch leider werden zu schnell alle Muslime in einen Topf geworfen, wie mir schon ein Konvertit im Interview sagte.
Ausgerechnet die Geschichte Europas macht Nadra Mut: Nach dem zweiten Weltkrieg lag nicht nur Deutschland in Trümmern, aber Europa hat sich aufgerafft, alles wieder aufgebaut, ist heute friedlich und erfolgreich. Denn wenn der Frieden kommt, will sie sofort wieder nach Hause und Syrien aufbauen helfen. Heimat ist einfach Heimat.
Dass die Deutschen für alles ein System haben und Dinge einfach funktionieren – und wenn nur der Bus pünktlich abfährt -, das bewundert Nadra sehr. Aber ihr fällt auch auf, wie leer die Schwedter Straßen sind, wie wenig junge Leute man sieht und dass hier offenbar nicht so viel gefeiert wird, wie sie es von Zuhaus gewohnt ist. Am Bollwerk aber gefällt es ihr sehr. Der Eismann gibt spontan Waffeln und Kaffee aus als Willkommensgeschenk und setzt sich dazu, um über die unterschiedlichen Kulturen zu plaudern. Nadra freut sich so über diese Herzlichkeit, dass sie ihn zum Abschied umarmt.
Das war für mich ein wunderschöner Nachmittag mit neuen Freunden. Auch wenn nicht jeder überschüssige Klamotten im Schrank hat oder sich zum Deutschlehrer berufen fühlt – einfach nur mit den Neuankömmlingen plaudern und ihnen ein freundliches Gesicht zeigen, das kann schon so viel ausmachen. Und passend ist auch heute meine Posterbestellung eingetroffen:
Ich freue mich aufs nächste Treffen!
Hallo 🙂 Ich finde den Artikel echt gut. die Aktion mit den Rosen ebenso.schade das ich nicht zu dem Zeitpunkt im Oder Center war. Ich hoffe das es euch so gut wie es ebend halt nur geht mit all dem unbekannten und fremden hier euch doch ein wenig wohl fühlen könnt. Ganz nette Grüsse Ronny 38 J. Schwedt