An der Kasse des Berliner Doms ist noch alles in Ordnung: Die Kassiererin unterhält sich mit einer Kollegin über „diese Person“, eine gemeinsame Bekannte, die sie nie wieder mit Namen nennen will. Uns ignoriert sie weitgehend, während sie unser Geld annimmt.
Doch dann der Schock: An den Flügeltüren lächelt uns die Kartenabreißerin entgegen. „Wie geht es Ihnen heute?“, fragt sie. Mein Bekannter und ich stutzen. In seinen Augen lese ich die gleiche Mischung aus Verblüffung und Misstrauen, die ich gerade empfinde: So viel Freundlichkeit ist man von Berlinern einfach nicht gewohnt. Ich stottere mich durch eine höfliche Antwort.
Später, in der Damentoilette neben der Hohenzollerngruft, ist mein Weltbild wieder gerade gerückt: Die Klofrau weigert sich, den Türsummer zu bedienen und die Kunden wieder rauszulassen, bis geklärt ist, wer die Plasteflasche in den Mülleimer geworfen hat. Nach Momenten des Zögerns gesteht eine Frau, ganz kleinlaut. „Das können Sie nicht, da kommt nur Papier rein“, klärt sie die Schlüsselmeisterin auf und begutachtet das Corpus Delicti genauer. Dann sagt sie, doppelt empört: „Da kriegen Sie doch noch 25 Cent für!“
Ja, die Berliner Schnauze ist berüchtigt. Und eine Übersetzung allein hilft nicht, wenn man nicht auch seelisch und moralisch auf den meist dazugehörigen Tonfall eingestellt ist. Wie bei der Bäckerin, die einen Touristen, der ein Brötchen bestellt, aufklärt: „Det heißt hier Schrippe! Det üben wir nochmal!“ Aber für mich ist diese direkte Art mit das Sympathischste an Berlin. Vor allem, weil sie mit einer guten Portion Selbstironie einhergeht. Noch nie habe ich bei einer Stadtführung (vom Wasser aus) so viele Witze gehört wie in der Hauptstadt („Der Kindergarten für Kinder von Abgeordneten hat zwei Kuppeln, weil sich darunter so schön Märchen erzählen lassen, meinte der Architekt. Jetzt wissen wir, warum der Reichstag so eine große Kuppel hat“, so der Guide.). So beginnt mir Berlin durchaus ans Herz zu wachsen.
Dabei stand unsere erste Begegnung unter keinem guten Stern. Klassenfahrt in der Zehnten, tagelang strömender Regen, eine Dauerbaustelle neben der anderen (der Umzug der Regierung von Bonn stand noch bevor), eine Freundin mit Liebeskummer, eine Jugendherberge gleich neben dem Straßenstrich… Nach nur zwei Tagen hatte ich als eingeschworenes Landei die Nase voll von Berlin. Ich kenne den Unterschied zwischen Stadtpark und echter Natur. Und das dichte Gedränge an Menschen zerrt an meinen Nerven, wenn die Intimdistanz in der U-Bahn auf eine Fingerbreite schrumpft. Noch heute atme ich einmal tief durch, wenn ich nach einem Tagesausflug wieder im Zug Richtung Schwedt sitze. Eigentlich darf ich das nicht zu laut sagen – denn ich kenne genügend Berliner, die ihre Stadt lieben, nie woanders leben wollen und empfindlich auf Kritik reagieren.
Dabei stellt sich allerdings die Frage: Welches Berlin lieben sie? Zusammengewachsen aus lauter kleinen Städten mit unterschiedlichem Flair, Spielknochen im Kalten Krieg, ist die Stadt noch heute getrennt in den „langweiligen Westen“ und spannenden Osten – sagen zumindest meine gewöhnlich gut informierten Quellen. Der Ampelmann hat als Kultobjekt beide Seiten der Mauer erobert, die Wiedervereinigung der Straßenbeleuchtung ist geplant, aber umstritten. Und nein, ich fühle mich von dem Hütchen-Kerl nicht diskriminiert. Ich habe meine Pendelin befragt und die meint, es ist für meine Gesundheit besser, mich von dem roten Signal angesprochen zu fühlen.
Seit ich nach Brandenburg gezogen bin, entdecke ich nach und nach Berlins Vorzüge: Das älteste indische Restaurant, Antiquariate für englische Bücher, Kinos mit Filmen in Originalsprache, abgedrehte Spielplätze mit Streichelzoo und alternativem Kuchenverkauf, Blumentopf-Gärten auf ehemaligen Flughafengeländen, eine Kneipe mit Mittelaltermusik und einem künstlichen Bachlauf auf der Theke… Je mehr ich mich umschaue, umso mehr Dinge finde ich, die auch eine Landmaus begeistern können. Und auch die sieben Euro Eintritt in den Dom haben sich tatsächlich gelohnt. Nicht zuletzt wegen des beeindruckenden Ausblicks auf diesen wild-faszinerenden Flickenteppich von Stadt (siehe Titelbild des Blogs)!
Hm, ich mag Berlin immer noch nicht. Trotz drei Konferenzen und Exfreundin. Oder deswegen. Wer weiß 😀