Peter S. Beagle auf der WorldCon – ein glückliches Fangirl erzählt

„Monster machen mir gar keine Angst – ich habe manche von ihnen selbst erfunden. Menschen ängstigen mich total.“

Peter S. Beagle, Dublin WorldCon 2019

Blick aus dem Convention Centre Dublin auf den Liffey

Jetzt hat bereits der meteorologische Herbst angefangen und ich habe noch nicht einmal von unserem Sommerurlaub in Irland erzählt. Das werde ich auch jetzt nicht tun, vor allem, weil ich noch gar nicht alle Bilder sortieren konnte. Gerade gibt es viel zu tun: Als wir vom Flughafen zurückkamen, stellten wir fest, dass wir länger im Urlaub gewesen waren als in der gemeinsamen Wohnung wohnten, die Kistenstapel lauerten und tun es zum Teil immer noch. Handwerker, Trauerfall in der Verwandtschaft, Steuererklärung, alte Wohnung übergeben, Arbeitsalltag finden … Kein Wunder, dass ich den Blog etwas vernachlässige. Doch eine Begebenheit, die möchte ich aus meinem Urlaubsbericht auslagern, denn sie steht für sich als eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens: meine Begegnung mit Peter S. Beagle.

Es ist interessant: Beagle wird zwar als „Genre-definierend“ und von vielen, weit berühmteren Fantasy-Autoren als Inspiration und Einfluss bezeichnet (Neil Gaiman, mein zweitliebster Autor, beschreibt das schön in seinem Blog), aber er selbst ist hauptsächlich für das eine Werk bekannt, das er vor über 50 Jahren schrieb. Ich kann mir auch denken, warum: Er ist nicht massentauglich. Er schreibt vergleichsweise kurze Bücher, nie Serien, Fortsetztungen höchtens in Form von Kurzgeschichten (den tiefergehenden Hintergrund meines Liebslingscharakters Schmendrick habe ich mir über verschiedenste Anthologien zusammengestoppelt – und jeder, der ihn nur von der (ausgezeichneten) Filmadaption kennt: selber schuld, lest das Buch!) und häufig ist das nächste Projekt völlig anders als das vorherige, zum Teil sogar vom Stil her. Und ich liebe es. Ich liebe seine Art, mit Sprache umzugehen, Metaphern zu erfinden, etwas, was ich nie können werde. Sein Stil ist meinem völlig entgegengesetzt und ich erstarre in Ehrfurcht. Dass er gerade einen langen Rechtsstreit gegen seinen alten Verleger/Agenten gewonnen hat, der im Juni wegen Betrug, Autoritätsmissbrauch und Diffamierung verurteilt wurde, hat wenig Medienbeachtung gefunden. Der Mann hat Beagle um sein Geld geprellt und versucht, ihn mit Unterstützung von Beagles Kindern für geistig unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Ein sehr trauriges Kapitel, das Beagle auf der Con mit der Wegwerf-Bemerkung, seine Anwältin sei seine beste Freundin, zum Lacher macht.

„Peter who?“, fragen dann auch die meisten Leute, denen ich erzähle, wie sehr ich mich freue, ihn auf der WoldCon in Dublin zu sehen, und nur ein vages Erkennen überzieht ihre Mienen, wenn ich vom Letzten Einhorn spreche – „der Zeichentrick, oder?“ Und offensichtlich kennt kaum jemand sein Gesicht, denn am Morgen unseres zweiten Con-Tages steigt Beagle einfach mal so neben uns in die Tram, steht stoisch zwischen den ganzen Nerds eingequetscht. 80 ist er mittlerweile und sieht etwas müder und älter aus als auf den Autorenfotos, die ich kenne, aber ich weiß sofort, wer er ist, piekse meinem Freund fast einen Bluterguss in die Seite und grinse wie blöd. Angesprochen hab ich ihn nicht, er sah so aus, als bräuchte er erst mehr Kaffee.

Dass ich mich wie ein Fangirl aufführe, kommt eigentlich nie vor. Ich bin nicht der Typ dafür. Doch an dem Tag, an dem ich erfuhr, dass ich diesen Mann werde treffen können – reiner Zufall, weil die schnarchigen Organisatoren der Con uns zwangen, Tageskarten zu kaufen, bevor das Programm bekannt war -, stellte ich zu meiner eigenen Überraschung fest, wie heillos aufgeregt ich war. Um bei der Signierstunde seine Aufmerksamkeit zu erregen, suchte ich mein Lieblingsbuch raus: eine alte, zerfledderte, bei ebay ersteigerte Ausgabe von „I see by my outfit“, die Beschreibung eines Roadtrips, den er in den 60ern mit seinem Freund, dem Maler Phil Sigunick, von New York nach San Francisco unternommen hat. Kein Fantasy, ein Haufen Witze und Anspielungen, die ich nicht verstehe, weil ich nicht in den 40ern und 50ern in den Bronx aufgewachsen bin, schräge Typen treffen schräge Typen, frieren andauernd – und ich liebe es.

Beim Anblick solcher Schlangen bekam ich schon am Donnerstag etwas Angst, ob es mir überhaupt gelingen würde, wirklich nah an meinen Helden heranzukommen. Okay, die da galt George R. R. Martin, kurz nachdem die letzte Game of Thrones-Staffel so enttäuschend zuende gegangen war – aber trotzdem. Wie sehr zieht der Name Beagle? Wann muss ich bereit stehen, um vielleicht sogar eine Minute mit ihm reden zu können, während er seinen Namen in mein Buch schreibt? Immerhin – für ihn gab es nicht solch strenge Regeln wie für die Autogrammstunde mit Martin („nur ein Buch, keine Selfies, keine Widmungen“). Obendrein fand das Signieren im anderen Con-Gebäude statt, zwanzig Gehminuten entfernt. Der Freund, der dort verschiedene wissenschaftliche Vorträge besuchte, erklärte sich vorsorglich bereit, mir einen Platz in der Schlange freizuhalten.

Vorher gab es jedoch das Panel: „Große Helden der Kinderliteratur“, ein Thema, das mich nur mäßig interessierte, aber… Beagle! Er kam als erster, der Rest verspätete sich – und plauderte ganz unbefangen mit Fans über sein Buffy-T-Shirt (und wie begeistert er war, James Masters auf einer Con zu treffen), seine Lieblingsszene in der Einhorn-Verfilmung (Christopher Lee aka König Haggard und das Skelett „chewing scenery“) und Kindheitserinnerungen an einen Besuch in Kalabrien, die seinen jüngsten Roman „In Calabria“ inspirierten – wieder eine Einhorn-Geschichte, aber in der Jetzt-Zeit. (Alle Zitate, die ich hier bringe, habe ich von meinen englischen Notizen übersetzt.)

Die Diskussionsrunde stellte sich dann als spannender heraus, als ich gedacht hatte. Sara Rees Brennan (2.v.l.) nannte als eine ihrer Buchheldinnen Mary Lennox aus „The Secret Garden„: „ein Charakter mit vielen Fehlern, die die Heldin des Buches wird durch reine Hartnäckigkeit“. Und das, wo Heldinnen oft dünn gesät sind. Gerade in der Fantasy, wie Brennan später feststellen musste, und das, wo sie lustigerweise den gleichen Einstieg in dieses Genre hatte wie ich: mit Tamora Pierce. „Danach dachte ich, Fantasy ist voll von Mädchen, die coole Dinge tun“ – ja, leider nicht.

Oft haben die Protagonisten von Kinderbüchern ihre Eltern verloren, und das wunderte die Autorinnen in der Runde kein Stück. „Welche guten Eltern würden ihr Kind Protagonist eines Romans sein lassen?“, meinte Brennan. Dabei eignen sie sich so gut, ergänzte Christine Taylor-Butler (2.v.r.): „Kinder sind furchtloser, weil sie zu dumm sind, um es besser zu wissen.“ Außerdem, so Holly Black (l.), sehnten sich Kinder Veränderung geradezu herbei. „Erwachsene versuchen, alles zusammenzuhalten. Veränderung ist schlecht. Störungen sind unangenehm. In Kinderbüchern sind sie dagegen höchst willkommen. Wir Erwachsene sind immer in Gefahr, stehenzubleiben.“ Doch dafür muss dem Kind in der Geschichte jede Möglichkeit genommen werden, Hilfe zu rufen – also keine Eltern und heutzutage: kein Handyempfang. Auch wenn es erwachsenen Autoren oft schwer falle, Kinder in Gefahr zu bringen – man könne sie nicht ewig beschützen vor der Welt. „Mit einem Buch kannst du alles von deinem sicheren Schlafzimmer aus erleben“, meinte Taylor-Butler. „Es erlaubt ihnen, einfach diese Schranktür zu öffnen und Szenarien auszutesten.“ Selbst wenn dann ein Monster darin ist.

Beagle erinnerte sich an seine Kindheit in New York: „Wenn die Schule zuende war, haben meine Eltern mich nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurück erwartet. Wir sind mit den Fahrrädern herumgefahren, in Schiwerigkeiten geraten und haben versucht, es zu vertuschen.“ Ja, eigentlich hat Beagle die Diskussionsrunde hauptsächlich zum Anlass genommen, um abzuschweifen und Anekdoten aus seinem langen Leben und Schaffen zu erzählen. Aber niemand war ungeduldig oder gereizt deshalb. Denn er ist eine Legende und ich war offenbar nicht die einzige, die dieser sanften, tiefen Märchenonkel-Stimme stundenlang zuhören könnte. Am liebsten will ich ihn sofort als Opa adoptieren.

„In der Bronx gab es alles bis auf weiße, angloamerikanische Männer. Die habe ich erst getroffen, als ich erwachsen war, und bin mir immer noch nicht sicher, ob sie wirklich existieren“, scherzte Beagle – interessant, wenn man das vieldiskutierte Thema Diversität bedenkt. Dazu habe ich auf der gleichen WorldCon noch einen anderes Panel gehört, aber das ist eine Geschichte für einen anderen Tag. Wie er zum Schreiben kam, kann Beagle ganz genau benennen. Das Buch, das für ihn alles veränderte, war „Der Wind in den Weiden“, das ihm eine Lehrerin ans Krankenbett brachte. „Das eine Buch war es: Ich hatte keine Wahl mehr, ich wollte nur noch das tun.“ Und so tut er mit 80 immer noch das, „was ich immer getan habe: Ich erzähle mir Geschichten und schreibe sie auf. Ich weiß nicht, wofür ich sonst geeignet wäre.“

Dass ihn die meisten Menschen mit einem angeblichen Kinderbuch bzw. -film (er schrieb selbst die Adaption) in Verbindung bringen, verblüfft ihn noch heute. „Ich bin mir immer unsicher, wie ‚Kinderbuch‘ definiert wird. Ich bin mit dem Bücherregal meiner Eltern aufgewachsen und durfte alles lesen, was ich erreichen konnte. (…) Ich lege keinen Widerspruch ein, wenn das Letzte Einhorn in die Kinderabteilung einsortiert wird, aber ich habe überhaupt nicht daran gedacht, als ich es schrieb.“ Das macht für mich absolut Sinn – in der Geschichte werden Motive wie Unsterblichkeit, Macht und Tod behandelt (gerade in Zusammenhang mit Schmemdrick – lest das Buch!), die Kinder kaum erfassen können. Und dieses Thema führt tatsächlich dazu, dass Beagle „I see by my outfit“ erwähnt, eines seiner liebsten, aber „leider vergriffenen“ Bücher: „Das habe ich in einer mexikanischen Buchhandlung in der Pornoecke gefunden. Darüber wundere ich mich immer noch.“

So brachte Beagle schließlich seine Mit-Autorinnen dazu, darüber zu philosophieren, wie sie eigentlich Bücher schreiben und ob sie immer die Zielgruppe im Auge haben. „Du weißt nicht, was Menschen mitbringen, wenn sie dein Buch aufschlagen“, meinte Holly Black. „Du kannst nur die Geschichte erzählen, die du erzählen willst, und hoffen, dass das, was für dich wahrhaftig ist, bei ihnen auch wahrhaftig ankommt.“ Beagle outete sich als Discovery-Writer, ohne den Ausdruck in den Mund zu nehmen: „In der Regel weiß ich nicht, wie meine Bücher enden werden.“ Und Taylor-Butler plädiert dafür, einfach mitzugehen, wenn sich Charaktere und eine Geschichte anders entwickeln als von der Autorin geplant:

„Lass zu, dass deine Charaktere dich mit auf ein Abenteuer nehmen
– du wirst überrascht und die Leser werden damit besser dran sein.“

Dann waren die 50 Minuten auch schon vorbei und die Organisatoren scharrten mit den Hufen, um den Saal für die Folgeveranstaltung fertig zu machen. Trotzdem gingen ein paar Leute nach vorn, um mit den Autorinnen zu reden, und ich fasste mir ein Herz – nachdem mir Beagle so eine Steilvorlage geliefert hatte. „Entschuldigung, Mister Beagle, ich wusste gar nicht, dass ich hier Pornografie gekauft hab.“ Damit reichte ich ihm meine Ausgabe. Er riss die Augen auf. „O my goodness! Das habe ich ja seit Jahren nicht gesehen. Wo haben Sie das her?“ Ich erklärte das mit ebay und dass es nicht leicht ist, in Deutschland an seine Werke zu kommen, ich sie aber immer im Original lese, weil ich seine Sprache bewundere. Er strahlte richtig, fragte nach meinem Namen, schrieb und wünschte mir eine schöne Con. Etwa fünf Schritte schaffte ich es noch, meine Würde zu bewahren, das Buch fest an meine Brust gepresst. Dann quietschte ich unkontrolliert, las die Widmung noch einmal und die Tränen schossen mir  in die Augen. Ist es nicht schön, dass dieser Moment nicht nur für mich besonders war, sondern auch ihm Freude gemacht hat? Mehr gibt es auch nicht zu sagen: „Für Andrea – das Buch, das den meisten Spaß gemacht hat von allen!“