Hallo Wien – eine Kurzgeschichte

Die Perspektive des Ketchupjunkie – vor zwei Jahren hatte ich  eine kleine Halloweengeschichte geschrieben, in der eine Berlinerin „Wien“ und seinen seltsamen Essgewohnheiten begegnet. Heute reiche ich seine Sicht der Ereignisse nach. Ich bin überrascht, dass es mir überhaupt gelungen ist, die Geschichte zu schreiben mit meinem Corona-Matschhirn. Ich hoffe, sie macht euch Freude.

Eigentlich sollte heute keine schlechte Nacht sein für sein Vorhaben. Der dichte, kalte Nebel kroch vom Fluss herauf und verschlang die Stadt, brachte die meisten Menschen dazu, die Mantelkragen höher zu schlagen, die Hände tiefer in den Taschen zu vergraben und die Schritte zu beschleunigen. Auf dem Weg in eine warme Stube, eine heiße Badewanne, eine gesellige Runde in einer Kneipe. Die, die draußen bleiben mussten, rutschten tiefer in ihre Schlafsäcke, rollten sich zusammen und zogen ihre Jacken über die Köpfe. Er konnte sie riechen, selbst wenn er sie nicht sah in den grau verhüllten Eingängen der Geschäfte und auf Gittern über den Entlüftungen der U-Bahn-Stationen. Selbst seine Raubtieraugen fanden nur wenige Anhaltspunkte in den Lichtinseln der Leuchtreklame und schwächer werdenden Straßenlaternen.

Ja, keine schlechte Nacht. Ohne viel Kundschaft erwarten zu können, waren die Besitzer der Bratwurststände manchmal offener für die Idee, etwas von ihrem kostbaren Rot herauszugeben. Aber heute war die Kälte nicht nur in ihre steifen Finger und dick besolten Schuhe gekrochen, sondern auch in ihre Herzen. „Mach’n Abjang!“, – „Jammalappm“,  – „Ick jeb dir wat uff’n Deez“. Einer warf eine leere Zigarettenschachtel nach ihm. Berliner Herzlichkeit. Das nahm er nicht persönlich. Morgen Abend konnte das schon wieder ganz anders aussehen. Leider wäre es auch nicht persönlich, wenn er ihnen gleich die Kehle rausreißen müsste.

Nein, nein, du schaffst das. Er strich sich eine verfilzte, schmutzige Haarsträhne aus der Stirn, umarmte sich selbst und grub die Finger in seiner nackten, bleichen Arme. Waren sie wieder dünner geworden? Er trampelte von einem Bein aufs andere, hopste und tänzelte, als könnte er damit den Hunger verwirren, der alle seine Glieder beherrschen wollte.

„Hallo Wien!“

Charlotte. Die gute Charlotte. Auf die war Verlass. Da beugte sie sich schon über die Theke ihres Imbisswagens und hielt ihm die Ketchupflasche entgegen. Sie nannte ihn Wien, wie die anderen auch, wenn sie ihn nicht gerade beschimpften. Er machte sich nie die Mühe, sie zu korrigieren. Dabei war der Salzburger Dialekt ein ganz anderer als der aus der Hauptstadt. Aber das konnten die Berliner wahrscheinlich nicht unterscheiden. Er grinste – nicht zu breit – und kam vorsichtig näher. Eine Frau stand an der Theke und aß Currywurst, warf ihm kaum versteckte mitleidige Blicke zu. Nur zögerlich trat er in den warmen, appetitlichen Dunst der beiden lebendigen Leiber. Du schaffst das!

„Komm, du Hungaharke, willste een Brühpulla?“

„Dankscheen.“ Er schüttelte den Kopf, griff rasch nach der Flasche und setzte sie an den Mund.

Der würzige Tomatensaft rann seine Kehle herab und für einen Augenblick ließ das schmerzhafte ziehen seiner Glieder nach. Fast hätte er laut gelacht. Das war die größte Erleichterung seiner neuen unseligen Existenz gewesen: dass es wenigstens einen – wenn auch dürftigen – Ersatz gab für das furchtbare, berauschende Blut. Während alle anderen Lebensmittel in seinem Mund zu Asche wurden – Ketchup konnte ihm das Überleben sichern, ohne eine Todsünde zu begehen. Sein sogenannter Meister und die anderen hatten ihn ausgelacht, zu ihren Teufeleien verführen oder lieber töten wollen, als seinen Pazifismus hinzunehmen. Deshalb war er aus seinem Heimatland in den Norden geflohen, wo die Nächte länger waren und die Pommesbuden zahlreicher. Ohne Geld, ohne gültige Papiere und ohne die Möglichkeit, sich eine Arbeit zu suchen. Bettelte er eben und versuchte, sich so kurz wie nur irgend möglich in der Nähe von Menschen aufzuhalten, die ein Teil von ihm stets als den unwiderstehlicheren Snack sehen wollte.

Rasch riss er das Plastik auf und schleckte die letzten Reste aus. Zu wenig, viel zu wenig. Mit einem letzten dankbaren Nicken wich er zurück, bis sich die Nebelschwaden kühl und ernüchternd zwischen ihnen und die Frauen legten. Doch ihr Duft folgte ihm hinüber zur nächsten Imbissbude, zusammen mit dem geflüsterten „Armer Kerl“. Gott segne sie.

Am nächsten Stand angekommen, streckt er die Hand aus, packte den dicklichen Koch am Kragen, zerrte ihn durch das Fenster und schlug … Nein! Der Ketchup! Ein ganzer Eimer. Stieß ihn mit dem Ellenbogen von der Theke. Seine Lippen formten eine formale Entschuldigung, als er schon auf den Knie lag und wie ein Hund die sich ausbreitende rote Pfütze aufschlabberte.

Diese Glückseligkeit! Mit jedem Schluck kehrten Kraft, Beherrschung, Leben! in seinen wandelnden Kadaver zurück. Ein schmerzhafter Stich fuhr durch seinen Rücken, aber weit entfernt und gedämpft, genau wie die wüsten Beschimpfungen des Kochs. Der nächste Schlag mit dem Wischmopp holte ihn ins Hier und Jetzt zurück. Der dritte weckte das Raubtier. Wie konnte dieser armselige Blutsack … Das waren die Gedanken des Dämons. Er schleckte schneller.

Ein neuer Geruch, Currywurst und so viel mehr. Die Frau fiel dem Imbissbudenbesitzer in den Arm. Verteidigte ihn! Rot vor Wut und schnaubend hob der Mann noch einmal seine Waffe.

Ein Knurren drang aus seiner Kehle, er sprang auf. Der Stab knickte zwischen seinen Fingern wie ein Strohhalm. Wage es nicht! Das sagte er nur mit einem Blick. Die Gesichter der beiden, dem Angreifer und seiner Retterin, waren so nah, wie ihm schon lange niemand mehr gewesen war. Erkennen blitzte in ihren Augen auf und Angst mischte sich in das Aroma der Nacht. Schnell wich er zurück, zwang sein Gesicht zurück in das des freundlichen, peinlich berührten Bettlers. „Verzeihn’s bittschee. I hab …“ Er ließ die Bruchstücke des Wischmopps fallen und drehte seine leeren Hosentaschen nach außen.

„Ich … ich zahl das“, stotterte die Frau.

Während sie sich dem bleichen Wüterich zuwandte, schlüpfte er davon, ermahnte sich, nicht zu schnell zu laufen, dass es auffallen musste. Der Ketchup ölte seine Glieder aufs Vortrefflichste. Er pfiff kleines Liedchen. Mit einem Mal sah die Nacht viel freundlicher aus.

 

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