Kaja, die Protagonistin, an der sich die Geister scheiden

Wenn die Fensterläden klapperten, der Wind auf dem Schornstein spielte wie auf einer Panflöte und sich die Pferde im Stall ängstlich zusammendrängten, dann zog es sie nach draußen. Selten fühlte sie sich so lebendig wie in diesen Momenten, als ob sie die Kraft des Sturms mit ihrem ganzen Körper aufsaugen könnte. Deshalb war sie hierhergekommen, aus Frankfurt am Main, weit weg von Zuhause. Um das Salz auf den Lippen zu schmecken und notfalls auch Sand zwischen den Zähnen und um komplett durchgebeutelt zu werden.

Andrea Weil: Sturmflutnacht, Edel Elements, Mai 2021

Hier ist der letzte Teil meiner Mini-Serie rund um die Veröffentlichung von „Sturmflutnacht“. Übrigens: Eine gute Woche noch läuft die Bewerbungsfrist für die Lovelybooks-Leserunde, bei der ihr ein kostenloses Exemplar bekommen und dann mit mir zusammen lesen und diskutieren könnt: https://www.lovelybooks.de/autor/Andrea-Weil/Sturmflutnacht-Ein-Nordsee-Krimi-2941537104-w/leserunde/2941564849/2941573850/

„Wieviel von dir steckt in deinen Figuren?“ Diese Frage taucht in schöner Regelmäßigkeit bei Autorinnenfragestunden auf und ich finde sie spannend, gerade weil sie sich pauschal nicht beantworten lässt. Meine Prota- und Antagonist*innen tragen wahrscheinlich alle etwas von mir in sich, und wenn es das Gegenteil ist, ein Gedankenexperiment, was wäre, wenn ich eiskalt berechnend handeln würde ohne jede Skrupel.

Kaja ist so etwas wie mein ideales Ich. Damit meine ich nicht, dass sie perfekt ist, sondern eher: Ich habe mir ausgemalt, was wäre, wenn ich bestimmte Eigenschaften, die ich bewundere, konsequenter durchziehen würde – mit allen guten wie bösen Folgen. Kaja ist ehrlich und direkt bis zur Unhöflichkeit, sie ist politisch radikaler, kompromissloser und steht zu ihren Überzeugungen, auch (oder gerade) wenn es unangenehm wird. Sie lebt ihre Emotionen aus und hat keine Hemmungen in Bezug auf ihre Sexualität. Sie hört auf ihr Bauchgefühl, hilft gerne anderen und ist sehr mutig in dem Sinne, dass sie trotz aller Angst das tut, was sie für richtig hält. Auf der anderen Seite bedeutet das allerdings, dass Kaja Menschen schnell verletzt, vorschnelle Urteile fällt, wenn jemand zum von ihr verhassten „System“ gehört, dass sie in ihrer Wut falsche Schlüsse zieht oder mit dem Kopf durch die Wand will.

Der Weg von Fahretoft nach Dagebüll ist mit dem Fahrrad fast schneller zurückzulegen als mit dem Auto – und Kaja nicht in bester Erinnerung.

Petersen schraubte die Saftflasche auf und nahm einen Schluck. „Wie geht es den Pferden?“

„Können Sie die Eisbrecherfragen sein lassen und einfach sagen, was Sie wollen?“

Die Polizistin verzog leicht den Mund, was Kaja als Punkt für sich zählte. Deine Psychotricks funktionieren bei mir nicht.

Andrea Weil: Sturmflutnacht, Edel Elements, Mai 2021

Beim Schreiben verliebte ich mich regelrecht in Kaja und Kalle als Pärchen, denn ich fand die beiden immer super süß zusammen, selbst wenn sie stritten. Kalle ist der perfekte Gegenpol, der Kaja mit seiner ruhigen und verständnisvollen Art erden kann. Deshalb hat sie mit ihm ein „bürgerliches“ Leben aufgebaut statt mit Vera, die mehr an der alten „Rebel Yell“ hängt, mit der sie früher Häuser besetzte. Eine Figur zu schreiben, deren größte Charakterentwicklung quasi vor Beginn der Geschichte stattfand, die aber nach wie vor mit den Nachwirkungen kämpft und in alte Gewohnheiten zu fallen droht, was faszinierend.

Im ursprünglichen Exposé hatte ich geschrieben, dass Kalle und Kaja in einer offenen Beziehung leben. Dass sich das in eine polyamoröse, bisexuelle Dreiecksbeziehung mit Vera entwickelte, war nicht geplant. In den jüngsten Jahren habe ich angefangen, mich zu den Themen Diversität und Repräsentation fortzubilden, und festigte Freundschaften zu Menschen, die gerade den Mut fanden, diese Seite von sich zu akzeptieren und offen zu leben. Mir gefiel der Gedanke, Kajas Sexualität als selbstverständliche Tatsache in die Geschichte einfließen zu lassen, ohne dass sie im Mittelpunkt steht oder groß problematisiert wird. Meine Sensitivity Reader haben mir zu meiner großen Erleichterung bestätigt, dass mir das (mit ihren wertvollen Tipps) gelungen ist.

Doch schon bei meinen Testleser*innen zeigte sich, was sich nun in den ersten Sternebewertungen des Romans (Aktueller Stand bei Weltbild: einmal 5 und einmal 2) fortsetzt: Nur, wer sich auf Kaja als Protagonistin einlassen kann, hat Freude an dem Buch. Eine schätzte Kaja als „modern-feministische Frau“ ein und damit gelegentlich schwierig, ließe sie gelegentlich an Weichheit und Sympathie vermissen. Dieses Urteil freute mich, zeigte es doch, dass Kaja so wirkt, wie ich es darstellen wollte in dem Zwiespalt, dem eigenen Anspruch als starke, unabhängige Ikone der Weiblichkeit gerecht zu werden und gleichzeitig auch mal in den Arm genommen werden zu wollen. Ich habe gar nicht so viel darüber nachgedacht, was passiert, wenn ich eine recht progressive Figur in ein eher traditionelles Genre wie Regionalkrimi einbaue. Meine Agentin hatte eine „pfiffige Ermittlerin“ vorgeschlagen und ich fühlte mich wohler, Nordfriesland durch die Augen einer aus Frankfurt am Main Zugezogenen zu zeigen, da ich die Region nicht so gut kenne wie andere, in denen ich meine Bücher bislang habe spielen lassen. Der Rest hat sich von selbst entwickelt, wie sich meine Figuren immer erst im Schreibprozess entwickeln. Der Verlag hat mit keiner Wimper gezuckt und mir eine Lektorin besorgt, die sich selbst für queere Repräsentation einsetzt.

Jungo und ich 1999 auf dem Weg zur Geländeprüfung beim Reitturnier des „Heidehofs“

Kalle verschwand im Bad. Als er in der schwarzen Kochhose wieder auftauchte, frisch getrimmt, mit zusammengebundenen Haaren, die silbergraue, taillierte Jacke über dem Arm, küsste sie ihn und drückte eine seiner Pobacken.

„Ey, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz!“

„Das kannst du behaupten, wenn du endlich mal wieder für mich kochst.“

Andrea Weil: Sturmflutnacht, Edel Elements, Mai 2021

Nun tauchte in der schlechten Bewertung das Wort „nervig“ auf, und das finde ich interessant, weil es der Begriff ist, mit dem bereits eine andere meiner starken Frauenfiguren bedacht wurde: Isa. Vor einem guten Jahr habe ich mich bereits mit der Frage auseinandergesetzt, ob wir aus unserer Prägung durch ein Patriachat heraus manche Verhaltensweisen eher einer männlichen Figur verzeihen als einer weiblichen: https://www.weil-andrea.de/meine-starken-frauen-eine-verteidigung-fuer-isa/

Und gerade im Zusammenhang mit Kaja kann ich das nur noch einmal unterstreichen. Und würde es immer wieder so machen, selbst wenn sich ein Teil der potentiellen Leserschaft dadurch vom Krimi entfremdet fühlt. Irgendwann müssen wir mal anfangen, die Muster zu durchbrechen, in allen Genres. Mir hat es sehr gut getan, Kaja in dieser Phase meines Lebens zu schreiben, als ich mich selbst so schwach fühlte. Und ich hoffe, dass sie anderen Mut und Kraft geben kann, trotz oder gerade wegen ihrer Schwächen.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und freue mich über Rückmeldung und Rezensionen. Vielen Dank an all die Menschen, die mir auf meinem Weg beistehen.

 

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert