Schwächen sorgen für Spannung

Weltenbau-Serie, Teil 4: Übernatürliche Fähigkeiten

Mit dem letzten Teil meiner kleinen Serie sind wir nun endgültig im Bereich der Fantasy angelangt. Denn wenn das Übernatürliche in unsere Welt einbricht, braucht es genauso Regeln, als wenn ich eine High Fantasy-Welt bauen wollte. Wenn Helmut als rundlicher, 77 Jahre alter Mann mit Knie- und Herzproblemen nicht ohne Sattel ein Pferd reiten kann wie Kaja, ist das in meinen Augen Charakterisierung, denn wir bewegen uns im Bereich des menschlich (und wissenschaftlich) Möglichen. Wenn ich nachlese, ab wie viel Liter Blutverlust es lebensgefährlich wird für einen Menschen, der gerade von einem Vampir ausgesagt wird (Antwort: eineinhalb Liter), handelt es sich um schlichte Recherche. Wenn ich allerdings festlege, dass Vampire immer in die Arterien beißen, dass ihr Speichel absurderweise heilend wirkt, wenn sie ihr Opfer nicht töten, und ein Mensch, der einen Vampirangriff überlebt, künftig an jenen #Gnackzuuzler blutgebunden ist und ihm gehorchen muss – das ist Weltenbau.

Inspiration von Dracula bis Rollenspiel

Gerade bei Vampiren gibt es so viele unterschiedliche Varianten und Regeln, wie sie erschaffen werden, sich ernähren, fortpflanzen, zu besiegen sind. In „Brennen muss Salem“ verwandelt sich einfach jeder, der gebissen wird, in einen Vampir – eine nicht gerade nachhaltige Variante, ein Klassiker seit Dracula, den nicht zuletzt das Musical „Tanz der Vampire“ als kaum versteckte Metapher für das kapitalistische System verwendet (by the way: Fuck Roman Polanski, auch wenn ich nicht drumherum komme, sein Werk hier zu erwähnen). Da erschien mir die Version von „Interview mit einem Vampir“ logischer, wo Anne Rice dafür sorgt, dass ein Vampir definitiv bewusst die Entscheidung treffen muss, ein „Kind“ zu erschaffen, indem er ihm von seinem eigenen Blut zu trinken gibt. Manchmal hilft Knoblauch bei der Abwehr, manchmal ist es nur eine schlichte Abneigung gegen ein Lebensmittel. Über Kreuze wird ebenfalls seit Tanz der Vampire z.T. gelacht, zumindest, wenn man sich nicht auf die alte deutsche Synchronisation verlassen hat (und wirft die Frage auf, ob der Besitzer des Kreuzes an seine Macht glauben muss oder auch der Blutsauger). Von Twilight müssen wir gar nicht anfangen, wo Vampire „vegetarisch“ sind und Tierblut trinken, und die Sonne nicht mehr anrichtet, als sie glitzern zu lassen. Das war ja die Anti-Inspiration für meine Vampys.

Dass es so unterschiedliche und widersprüchliche Aussagen gibt, habe ich prompt in meinen eigenen Weltenbau übernommen und behauptet, dass Vampire selbst diese Bücher angeregt haben nach dem Motto: Wenn wir unsere Existenz schon nicht verschleiern können, dann sorgen wir wenigstens dafür, dass niemand genau weiß, wie wir zu besiegen sind. Aber ich habe für mich ein Konzept festgelegt: Übermenschlich stark. schnell, scharfe Sinne wie ein Wolf sind die Standardausführung. Gedankenmanipulation und Hypnose auch, allerdings müssen diese (zu Martins Leidwesen) trainiert werden. Die Idee, dass jede Blutlinie ihre eigenen Spezialfähigkeiten hat, habe ich, wie das Konzept der Blutbindung, aus der Rollenspiel-Welt World of Darkness – mit einem entscheidenden Unterschied, den ich gleich erklären werde.

Zur Book-Releaseparty schenke ich auf der FilkContinental 2017 stilecht aus dem Blutbeutel aus

Regeln aufstellen und sich dran halten

Martin rappelte sich auf und klopfte sich ein paar Blätter von der Jeans. „Blutlinie. Vererbung“, brummte er. „Wenn das mal nicht rassistisch klingt.“

„Du hast absolut recht.“ Vincenzo nickte ernst, doch seine Augen funkelten vor unterdrückter Heiterkeit. „Ich finde auch, jeder sollte die gleichen Möglichkeiten haben, Menschen auf faszinierende Art und Weise ins Jenseits zu befördern.“

Andrea Weil, No Pflock, Fabylon 2017

Theoretisch hätte ich auch einfach alles in meine Vampirgeschichte schmeißen und Spaß haben können, ganz ähnlich, wie es Jim Butcher (ebenfalls Rollenspieler) in seinen Dresden-Files tut. Doch obwohl er so ziemlich jedes bekannte Vampirkonzept verwendet, teilt er es auf verschiedene „Höfe“ auf, die alle Vor- und Nachteile haben. Genau wie mit Magie wäre es für eine Leserschaft schnell langweilig und beliebig, wenn alles geht. Wenn wir die Regeln nicht kennen und jederzeit ein Deus Ex Machina aus dem Hut zaubern können – wie soll dann je Spannung entstehen? Oder wenn eine mächtige Keatur wie der Vampir gar keine Schwächen hat und die Lage für ihre menschlichen Gegner von Anfang an aussichtslos ist?

Deshalb habe ich mich für mich auf ein Vampirkonzept geeinigt, in dem Vampire mit Silber, Feuer und Sonne zu verletzten oder gar zu töten sind und sie tagsüber hilflos in ihren Särgen liegen. Tierblut ist nicht drin, denn ich möchte meine Vampire nicht aus dem moralischen Dilemma entlassen, ihre Unsterblichkeit auf Kosten unendlich vieler Toter zu führen. Welcher Mensch ist dazu bereit, ein solches Leben zu wählen? Das ist für mich eine der spannendsten Fragen des Vampirdaseins überhaupt! Dazu die Blutbindung: In der World of Darkness verliebt sich ein blutgebundener Mensch automatisch in seine*n Meister*in und dient mit Freuden – ich vermute, damit sich die Spieler*innen nicht zu schlecht fühlen und ständig Nebenkonflikte austragen müssen. Nicht mit mir! Da zu viele Vampirbücher jüngeren Datums toxische Beziehungsmuster als romantisch darstellen, will ich den ganzen Ausmaß zeigen, wie ungesund ein solches Machtgefälle ist. Meine Vampire haben keine Ausrede vor sich selbst. Sie spüren genau, wie ihre „Sklaven“ leiden. Und es hängt stark von der geistigen Disziplin eines einzelnen Vampirs ab, wie gut oder schlecht er die Stimmen in seinem Kopf wegdrängen kann oder sich davon irritieren lässt.

Welche Botschaft hat meine Geschichte?

Was ich in meinen Weltenbau integriere, ist also eng verknüpft mit der Botschaft, die ich vermitteln will. Besonders deutlich wird das beim Werwolfkonzept von Menschenwolf. Isa hat genau zwei übernatürliche Eigenschaften: dass sie sich überhaupt einmal im Monat in einen Wolf verwandelt und dass sie in Wolfsgestalt in der Lage ist, länger und ausdauernder schnell zu rennen als ein Durchschnittswolf – ein Geschenk der Natur, damit sie in einer Nacht größere Strecken zurücklegen kann. Das war’s. Ansonsten hat sie keine Fähigkeit, die ein normaler Wolf nicht auch hätte, und die sind beachtlich genug, wie wir in meinem Sinne-Beitrag angerissen haben. Von mehr als einer Seite bekam ich deshalb die Rückmeldung, das sei zu wenig Fantasy, zu wenig mythisch, sogar „zu langweilig“. Und das bereits von Testlesenden vor der Veröffentlichung.

Trotzdem hab ich nichts daran geändert, denn das war der Kern der Geschichte, der ganze Grund, warum ich mein Herzensprojekt überhaupt schreiben wollte: Weil ich die Werwolf-Dartsellungen in der Fantasyliteratur nicht mochte. Selbst wenn sie wohlwollend gemeint ist und nicht reine Monster zeigt, krankt sie oft an den überholten Klischees des Alphawolfs oder des Symbols für Wildnis und unberührte Natur. Ich wollte den Wolf als das darstellen, was er ist: ein faszinierendes Tier, auf das viel Aberglaube projeziert wurde und wird – mehr aber auch nicht. Deshalb besteht Isas Realitätsflucht darin, den Anschluss an ein Wolfsrudel zu suchen. Ja, das machte das Manuskript schwerer vermittelbar und ich hatte große Angst, ein Verlag würde sich ebenfalls größere Änderungen wünschen – aber Isegrim hat nichts dergleichen getan. Wölfe halten halt zusammen.

Zum Abschluss

Das war er nun, mein kleiner Ausflug in die Weltenbau-Überlegungen einer Autorin, die weder Welten neu erfindet noch eine Plotterin ist. Ich hoffe, es war ein bisschen interessant, wie viel Arbeit doch in einem Buch steckt, das scheinbar „nur“ in unserer Welt spielt. Vielleicht werde ich in der Zukunft noch einen Teil ergänzen – wenn denn mal meine Space Opera-Trilogie vermittelt ist und geschrieben wird. Bis dahin – haut ruhig raus, falls ihr Fragen habt, gern auch auf Instagram, wo eine gekürzte Fassung dieser Beiträge erschienen ist.

Hier hat ein Sattelit im Sommer 2020 meine Aufnahme von Neowise gefotobombt – oder war es was außerirdisches? 0.0

 

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