Eine Welt aus Gerüchen und ohne Rot

Weltenbau-Serie, Teil 3: Sinneseindrücke

Wenn die Fensterläden klapperten, der Wind auf dem Schornstein spielte wie auf einer Panflöte und sich die Pferde im Stall ängstlich zusammendrängten, dann zog es sie nach draußen. Selten fühlte sie sich so lebendig wie in diesen Momenten, als ob sie die Kraft des Sturms mit ihrem ganzen Körper aufsaugen könnte. Deshalb war sie hierhergekommen, aus Frankfurt am Main, weit weg von Zuhause. Um das Salz auf den Lippen zu schmecken und notfalls auch Sand zwischen den Zähnen und um komplett durchgebeutelt zu werden.

Andrea Weil: Sturmflutnacht, Edel Elements 2021

Das ist eine Anregung, die ich schon im Journalistik-Studium beim Reportagekurs bekommen habe: Sprich alle Sinne an, um ein lebendiges Bild zu schaffen. Damit sich Leser*innen in eine Szene hineinversetzen können, sollte ich nicht nur beschreiben, was ich sehe, sondern auch höre, rieche, schmecke, taste. Das heißt natürlich nicht, dass man in jeder Situation alle fünf Sinne durchtanzen muss, aber zumindest die, die sich als erstes anbieten. Der Geruch, wenn man eine Bäckerei betritt, ist definitiv ein anderer, als wenn man durch eine Kanalisation kriecht. Hagel ist unangenehmer auf der Haut als Sprühregen und wird beeinflussen, wie schnell sich jemand durch die Szene bewegt. Wenn die Perspektivfigur einen dunklen Raum betritt oder eine Höhle – woher kommt das Licht, mit dem sie sich orientieren kann? Was kann sie überhaupt erkennen, was enthüllt sich erst später? So entsteht Spannung.

Die Nase eines Wolfs

Besonders relevant werden die anderen Sinnesorgane, wenn ich nicht mehr aus rein menschlicher Sicht schreibe. Dass ich von Kindheit an gern Katzengeschichten geschrieben habe, wisst ihr ja – und spätestens mit meinem Erstling Menschenwolf stand ich vor der Herausforderung, die Welt aus einer Perspektive zu schildern, die viel mehr von Geruch und Gehör dominiert wird (auch wenn Wölfe natürlich ausgezeichnete Augen haben, gerade für die Dämmerung). Das Heulen von Artgenossen hören Wölfe je nach Windrichtung auf eine Entfernung von sechs bis zehn Kilometern. Beute wittern sie auf zwei bis drei Kilometer und folgen Spuren, die drei Tage alt sind. Es gibt Hinweise, dass sie über eine Markierung nicht nur das Geschlecht eines anderen Wolfs bestimmen können und seine Paarungsbereitschaft, sondern auch Alter und Gesundheitszustand. Wie muss das auf einen Menschen wirken, der sich plötzlich in dieser Gestalt befindet?

Ich setzte Pfote vor Pfote, Stufe um Stufe stieg ich die Treppe hinab, mit jedem Schritt ein neues Universum um und in mir: Der eisige Ostwind füllte meine Lugen und schmeckte nach Schnee, unter der Erde hörte ich das Knistern von Mäusen, die sich in ihren Schlafhöhlen räkelten, aus dem Nachbarhaus drang der Duft von Plätzchen, die vor zwei Tagen gebacken worden waren … Beinahe wie Musik, nur dass ich sie nicht nur hören, sondern auch riechen konnte. Eine Symphonie, zu der selbst der Asphalt der Straße seinen Teil beitrug, im Kampf gegen die Kälte.

Andrea Weil: Menschenwolf, Isegrim-Verlag 2019

Wolfsnase ganz nah – ein Welpe im Wolfcenter Dörverden

Die Augen einer Katze

Nun ist es das eine, eine Werwölfin zu haben, die alles, was sie über ihre geschärften Sinne wahrnimmt, trotzdem noch auf menschliche Weise interpretiert – und einen Kater, der ganz selbstverständlich damit aufgewachsen ist. Als ich 2018 zu meinen Ursprüngen zurückkehrte und Mrris Geschichte aufschrieb, war ich selbst überrascht, an wie viel ich mich noch aus meiner Katzenphase erinnerte. So zum Beispiel Tasthaare, oft auch der „sechste Sinn der Katze“ genannt , und die Tatsache, dass Katzen wie auch Pferde flehmen, um mit einem Organ im Rachen Geruchspartikel genauer zu analysieren. Anderes recherchierte ich lieber nochmal nach und stieß auf ein interessantes Fotoexperiment, das darstellte, wie Katzenaugen im Gegensatz zu menschlichen funktionieren. Die beiden herausstechendsten Merkmale: die vergleichsweise Kurzsichtigkeit – und die Abwesenheit von Rot. Deshalb kommt das Wort „rot“ nur im Buch vor, als Tod Mrris Feind Meo als „roten Tiger“ bezeichnet (und einmal am Goldfischteich, als ich „gelbrote Leckerbissen“ dümpeln lasse, weil ich nicht aufgepasst hab. Verdammt!). Selbst bei der Begegnung mit einer Füchsin vermeide ich diese Beschreibung – seltsam, dass es keine*r Leser*in spätestens dann aufgefallen ist.

Das Tier schlüpfte herein und blieb sofort wieder stehen, den ganzen Körper angespannt, den buschigen Schwanz waagerecht nach hinten weggestreckt. Sein Fell hatte die gleiche undefinierbare Farbe wie Meos – nicht gerade die beste Erinnerung –, Wangen und Brust hoben sich strahlend weiß davon ab. Die dunkler gefärbten Ohren drehten sich in Richtung der Kühe, die sich unruhig bewegten, hier und da ein gedämpftes Muhen ausstießen, wahrscheinlich ebenso in Alarmbereitschaft versetzt von dem fremden Duft wie Mrri.

Andrea Weil: Neun Leben, achtzehn Krallen, Arunya-Verlag 2018

Minkie, die Katze unserer Nachbarn, könnte ihre eigene Fellfarbe nicht so beschreiben, dass wir es verstehen

Jetzt stellen wir uns noch vor, wir kombinieren die scharfen Sinne eines Raubtieres mit dem Verstand und der Gestalt eines Menschen, der im Gegensatz zu Isa keinerlei Skrupel hat, sie für die Jagd einzusetzen – und haben einen Vampir. Doch das ist eine Geschichte für die nächste Episode.

Vierte und letzte Folge: Übernatürliche Fähigkeiten

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert